Regine Nahrwold am 9. Dezember 2021
Herzog Anton Ulrich-Museum erhält 50 Graphiken von Gerd Winner
„Time Square New York. Eine urbane Metamorphose“. Dieses 1984 geschaffene, aber jetzt erst verlegte Portfolio mit 50 Alugraphien des in Liebenburg lebenden Künstlers Gerd Winner wurde am Donnerstag dem Herzog Anton Ulrich-Museum feierlich übergeben. (Alugraphien sind Lithographien, die nicht vom Stein, sondern von einer Aluminiumplatte gedruckt sind.) Ermöglicht hat dies die Baudis Bergman Rösch Holding GmbH (BBR), die das Portfolio erworben und dem Museum geschenkt hat.
„Die Stadt forderte mich künstlerisch heraus“, begann Winner, Professor an der Akademie der Bildenden Künste München, seine Rede, in der er den Lebensweg durch „seine“ Städte Revue passieren ließ. Die Initialzündung war dem 1936 Geborenen der Kulturschock seiner von Bomben getroffenen Heimatstadt Braunschweig. Die nächste Station: das nicht minder kriegszerstörte, zweigeteilte Berlin, wo er 1956 bis 1962 an der HBK Malerei studierte. Die Auseinandersetzung mit antiken Stadtkulturen (Peloponnes, Kreta), Städten der jüdisch-christlichen (Jerusalem, Jericho, Kapernaum) und der arabischen Kultur sowie der Vision der ewigen Stadt Jerusalem folgten. Letztere, in der Apokalypse als Hoffnungsziel geschildert, weckte Winners Interesse an den Megastädten Tokyo und New York, wohin er 1972, nach einem London-Aufenthalt, erstmals reiste. Das Erlebnis des Time Square mit seiner Werbung und den ständig wechselnden Lichtspielen grub sich in sein Gedächtnis und fand über 20 Jahre später in den Graphiken besagter Mappe seinen künstlerischen Ausdruck.
Als „Lehrstück von Technik und Transzendenz“ sowie als Schlüsselwerk in Winners Œuvre bezeichnete Thomas Döring, Leiter des Kupferstichkabinetts des Herzog Anton Ulrich-Museums, die 50 Graphiken, von denen im Kabinett 24 präsentiert waren. Nach den malerischen Siebdrucken der „traumhaft in sich ruhenden Londoner Docklands“ von 1972, ebenfalls im Bestand des Museums, leiteten die Alugraphien von 1984 mit ihren filigranen Strukturen in Schwarz-Weiß, ergänzt um eine Tonplatte in warmem Grau, ein neues Kapitel ein. Sie zeigen angeschnittene Ansichten von Hochhausarchitekturen, basierend auf fotografischen Doppelbelichtungen, schräge, sich ins Lichte auflösende Perspektiven, durchwoben von der Schrift der Billboards. Sie muten kubistisch und zugleich atmosphärisch an. Das realiter Gesehene wird so transformiert, in eine urbane Metamorphose überführt.
Eine große Bereicherung für das Kupferstichkabinett sei diese Schenkung, so Döring, der Winners Arbeiten als „Fluchtpunkt“ ein Blatt aus der Serie der phantastischen „Carceri“ (Kerker) von Giovanni Battista Piranesi von 1761 gegenüber gestellt hatte. Dies, um das kunstgeschichtliche Umfeld zu demonstrieren, in den „Time Square New York“ nun eingebettet sei. Winner habe gut 200 Jahre nach Piranesi dessen surreale Architektur „nachvollzogen als Utopie bzw. Dystopie, die nirgendwo hinführt.“