Regine Nahrwold am 28. April 2022
Doppelausstellung von Raimund Kummer in der HBK Braunschweig
Das Panoramafoto einer gewaltigen Baugrube in der Lafayette Street in Manhattan, New York City, 1981. Die Wände mit Betonplatten und diagonalen Stahlträgern abgestützt, der Boden ein Gewirr von aufgerissener Erde, Geröll, alten Fundamenten, Leitungen. Die Höhe der ringsum aufragenden Häuser steigert noch die Tiefe der Grube, die klaren kubischen Formen kontrastieren mit dem Eindruck des Chaotischen.
Wer dieses großformatige Bild auf sich wirken lässt, der begreift, dass es von seinem Schöpfer heißt: Raimund Kummer arbeitet mit vorgefundenen skulpturalen Situationen im realen Raum und trennt nicht länger zwischen dem Entstehungsort eines Kunstwerks und dessen Veröffentlichung. Auf diese abstrakte Formel lässt sich das Œuvre Kummers, der seit 1995 eine Professur für Bildhauerei an der HBK Braunschweig innehat, sprachlich eindampfen. Anlässlich seiner Emeritierung hat er nun mit den zwei polar aufeinander bezogenen Ausstellungen „Kummer weint“ (Schwarzweißfotografie in der Montagehalle) und „Schließ die verdammten Eisfach!“ (Skulptur/Video/Sound in der Hochschulgalerie) eine faszinierende Innen- und Rückschau auf sein bisheriges Werk vorgenommen. Beide Projekte zeigen Arbeiten, die der Künstler bei der intensiven Recherche zu seinem Werkverzeichnis neu entdeckt und bewertet hat. „Kummer weint“ umfasst über 1000 von 1976 bis heute analog belichtete Vintageprints, Handabzüge und Digitaldrucke auf Barytpapier, Siebdrucke hinter Glas und xerografierte Bücher. In Vitrinen und zu Tableaus angeordnet an den Wänden, erinnern sie an biographisch-künstlerische Stationen Kummers wie Reisen, Studienaufenthalte, Wohnungen, Ateliers, Wegbegleiter der Künstlergruppe „Büro Berlin“ und zahlreiche Projekte. Die pfeilartig aufgestellten Vitrinen führen geradewegs auf den Fluchtpunkt der Arbeit „Carl Andre“ von 1980 zu, ein Schlüsselwerk in Kummers Auseinandersetzung mit der amerikanischen Minimal Art. „Kummer weint“ aus dem gleichen Jahr – ein Ensemble von Selbstportraits (Kontaktstreifen, vergrößert) – mag dem Schmerz über die Isolation des Malers im Atelier entsprungen sein, denn bevor er dieser Situation entfloh und mit der skulpturalen Arbeit im öffentlichen Raum begann, hatte Kummer an der HdK Berlin bei Fred Thieler Malerei studiert. Zwei weitere Portraits nehmen in der Ausstellung eine markante Position ein: eine Aufnahme von Kummers Hinterkopf, in dessen kurzes Haar ein Fragezeichen hineinrasiert ist, bildet den programmatischen, das experimentelle Moment seines Schaffens verkörpernden Auftakt. Die enorme Quantität der Exponate schließlich übergreift das von einem Riss durchzogene künstlerische Subjekt mit „Cut“, einer Serie von Selbstbildnissen, die mit einem zerschnittenen Film aufgenommen wurden.
Den dunklen Raum der Hochschulgalerie füllt fast bis an die Ränder eine bedrängend große Skulptur, eine Abfolge von Blöcken, gebildet aus 84 übereinander gestapelten Aluminiumrahmen des ehemaligen Ausstellungssystems des Essener Museums Folkwang. An jeder der Stirnseiten ist ein Video zu sehen, einmal von einem rotierenden, netzartigen Kunststoffgebilde, das wie ein Gehirn oder ein inneres Organ anmutet. Gegenüber ein Film von einer ebenfalls rotierenden Schwenkgussapparatur mit der Negativgussform eines Modells des Sehnervs des menschlichen Auges; er greift das Sehen auf, das Kummer in seinem Œuvre immer wieder als elementaren Aspekt von Kunst thematisiert hat. Die farbige, bewegte Leichtigkeit dieser Projektionen bildet einen spannenden Gegensatz zu den grauen, schweren, statischen Blöcken. Dazu erklingt – als immaterielles Moment der Installation – eine Frauenstimme, die die Titel der rund 1000 von Kummers Werkverzeichnis erfassten Arbeiten spricht.
Beide Ausstellungen stellen ganz eigene Kunstwerke dar, die durch ihr gedankliches Konzept, durch klar strukturierte Fülle sowie durch jene Perfektion und Schönheit bestechen, die Raimund Kummers Arbeiten seit jeher auszeichnen. Der Künstler bedankte sich sehr herzlich bei den hervorragenden WerkstattleiterInnen der HBK und bei allen MitarbeiterInnen, die mit ihm diese Kunstwerke und den umfangreichen Katalog dazu realisiert haben. (Bis 27. 5., HBK Braunschweig, Johannes Selenka-Platz, Öffnungszeiten: Mo–Fr: 14–18 Uhr, feiertags geschlossen)
Pressefotos hier: https://powerfolder.sonia.de/getlink/fiFhKKrcDvbwZbZYa7Y2MBqj/Pressefotos-deutsch-komprimiert.pdf