Regine Nahrwold am 4. Mai 2022
Ausstellung: Retrospektive von Christiane Möbus in Hannover
Christiane Möbus hinter ihrer Arbeit „Kriminalstück II“ (1989/1991) und vor „Mississippi-Projekt“ (1970/1971)
50 Jahre ist es her, dass sie auf dem Braunschweiger Nussberg mit selbst verfertigten Flügeln zum Sprung ansetzte, in der Aktion „das unnötige Verlöbnis der Frau Holle mit dem Schamanen – oder – a new life“. Das Studium an der SHfBK Braunschweig bei Emil Cimiotti lag da schon hinter ihr, und soeben war sie von einem zweijährigen Studienaufenthalt als DAAD-Stipendiatin in New York zurückgekehrt. Der Sprung in ein neues Leben und in die Riege der Großen der deutschen Kunst ist Christiane Möbus gelungen. Seit fünf Jahrzehnten arbeitet die Objekt- und Konzeptkünstlerin auf den Gebieten Fotografie, Film, Skulptur und Installation; als Professorin der HBK Braunschweig (1982-1990) und der Universität der Künste Berlin (1990-2014) war sie auch als Hochschullehrerin erfolgreich. 1947 geboren, gehört sie zu jener Künstlergeneration, die die Protagonisten von Pop Art und Minimal Art ablöste. Nun haben das Sprengel Museum und der Kunstverein Hannover für Möbus anlässlich ihres 75. Geburtstags die wunderbare Retrospektive „Seitwärts über den Nordpol“ ausgerichtet. Eine Ausstellung an zwei Orten, so die Kuratorinnen Kathleen Rahn (Kunstverein) und Gabriele Sand (Sprengel Museum), ein mentales Feld, wo alte und neue Arbeiten Bezüge zueinander aufnehmen und ein Gesamtkunstwerk bilden, in dem das ganz Eigene von Möbus‘ Kunst zum Vorschein kommt. Sie arbeitet mit vorgefundenen realen Gegenständen und kombiniert von jeher eigenwillig und gewitzt Dinge miteinander, die nach der herkömmlichen Logik nichts verbindet; so ergeben sich neue, mal spielerische, mal bedeutungsvolle Verknüpfungen.
„Das Zentrum des Wassers kann den Mond nicht sehen“ (1975/1976)
Ein weiteres wesentliches Moment sind die metaphorischen Titel, die, oft handschriftlich hinzugefügt, integraler Bestandteil der Arbeit sind und einen weiten Assoziationsraum eröffnen. Eine präparierte Giraffe schwebt an Drahtseilen auf einem Metallpodest über dem Boden („Küsse vom König“, 2001/2007). An das kompakte Fahrerhaus eines schwarzen Lkw hat sich eine Wolke duftigen schwarzen Tülls angedockt („Schneewittchen“, 1994/2007).
„Schneewittchen“ (1994/2007)
Auf einen Mantel sind trockene Blätter appliziert („ohne Wind und ohne Worte“, 1974). Ein Raum im Kunstverein ist fast völlig ausgefüllt von der Arbeit „rette sich wer kann!“ (2001), zwei für 10 Personen ausgewiesenen Rettungsbooten; doch der Imperativ läuft ins Absurde, denn in den Booten türmen sich unnützerweise massenhaft Heuballen, so dass für Menschen gar kein Platz mehr da ist. „auch für Linkshänder“ (1984) besteht aus zwei Antilopen-Geweihen an der Wand, davor drei Stapel von Gummiringen; einerseits bilden diese eine formale Analogie zu den geriefelten Geweihen, andererseits erinnert das Ganze an ein Wurfspiel auf dem Jahrmarkt.
„rette sich wer kann!“ (2001)
Das In-Bewegung-Sein ist ein anderes Thema, das Möbus‘ Œuvre wie ein roter Faden durchzieht. 1970 entstanden vier Schwarzweiß-Aufnahmen von Schrittfolgen, die die Künstlerin in New York auf dem Dach eines Hauses in den Schnee trat. Das „Missisippi-Projekt“ (1971) dreht sich um eine Reise mit dem Greyhound entlang des Mississippi. Von jeder Stadt, wo sie umstieg oder Halt machte, schickte Möbus sich selbst eine Postkarte. Diese 30 Postkarten, montiert auf eine Landkarte der USA, dokumentieren das Projekt; sie stellen eine Abstraktion der Reise, zugleich eine eigene ästhetische Form dar.
„Missisippi-Projekt“ (1971)
„Nelly“ (2007)
Ganz anders greift die monumenale Arbeit „Nelly“ von 2007 noch einmal das Thema der Reise auf: Auf zwei Transportwagen sind diverse alte Koffer, Taschen und Kartons eng gestapelt und geschachtelt wie auf einem Gepäcktrolley am Flughafen; lederne Medizinbälle dazwischen durchbrechen die Abfolge eckiger Formen und evozieren die Bewegung des Rollens, die hier jedoch wie eingefroren ist. Auf der gut zwei Meter hohen Formation lagert ein präpariertes Krokodil wie eine Reminiszenz an ferne Länder, wie ein fremder, triumphierender Wächter. Dieses im wörtlichen wie übertragenen Sinne dichte Werk ist, wie alle Arbeiten von Möbus, von großer physischer Präsenz, hier durch den Stoff Leder, mit dem die Haut des Krokodils korrespondiert. Die Serie „Wanderdüne“ (2005), Farbfotografien von Anhäufungen kreativer Dinge und Materialien, zeigt schließlich, wohin Möbus‘ Reise geht: in die Zukunft. (Bis 24.7., Kunstverein Hannover; bis 11.9., Sprengel Museum Hannover. Matinee mit Katalogpräsentation am 29.5., 11.15 Uhr, im Sprengel Museum)
„Der Kuckuck: vom Werden und Vergehen“ (2016)
„Hurrikan Harvey“ (1992/2022)