Regine Nahrwold am 16. Oktober 2022
MeisterschülerInnen 2022 im Kunstverein Braunschweig
„Strange Itineraries“ heißt die Ausstellung von Arbeiten der Studierenden der HBK Braunschweig, die dieses Jahr ihre Ausbildung als Meisterschüler und -schülerinnen beschließen und denen nun der Schritt an den Kunstmarkt, ins „Betriebssystem Kunst“ bevorsteht. Ja, sehr eigene und oft auch eigenartige Reisewege zeichnen sich in dieser Schau des Kunstvereins Braunschweig ab. Im Foyer der Villa „Salve Hospes“ zeigt Sunny Pudert „STTING IS PLEASURE“, eine Folge von drei weißen Betonsockeln, gekrönt von schwarzen Silikon-Pyramiden, sie laufen auf das rautenförmige Bild eines sich aufbäumenden Pferdes zu – klare skulpturale Setzungen in strengem Schwarz-Weiß-Kontrast. Da sieht gut aus in der Rotunde, doch was hat es zu bedeuten? Von der Künstlerin erfährt man, dass sie sich mit „defensiver Architektur“ auseinandersetzt, also Vorrichtungen in Städten, die es Menschen unmöglich machen, zu sitzen und zu verweilen. Die weiche Silikonspitze soll die Lust des Sitzens veranschaulichen, das Pferd den Widerstand gegen den Zwang, aber auch männliches Imponiergehabe. Das ist konzeptuell-verklausuliert und dem Werk nicht anzusehen, es wird damit gedanklich überfrachtet.
Eine ganze Reihe von Arbeiten sind beeindruckend kunstvoll gemacht, auch schön anzusehen, können einen aber auch als reine l’art pour l’art etwas unbefriedigt zurücklassen. Dazu gehört etwa die Malerei von Verina Schwarz, die sich mit Hathor, der altägyptischen Göttin der Liebe, der Kunst, des Friedens und aller weiblichen Wesen beschäftigt. Carlotta von Drinkewitz verknüpft in sensiblen Wandobjekten Eindrücke von der Architektur Neapels mit der klassizistischen Ornamentik und Symbolik des Kunstvereins. Ihre Bodenarbeit „The Gods did create man, man create gods“ ist aus verzweigten Formen gebildet, in denen man erst auf den zweiten Blick die Buchstaben entdeckt.
Agathe Borbes gewelltes Badehandtuch aus Glasfasergewebe, Epoxidharz, Pappmachée, Glasur und Decorfarbe fasziniert als zerbrechliches Gebilde; die Künstlerin hat ihm auch ein Gedicht gewidmet. Viiri Linnéa Broo Andersson lädt mit ihren „Candysticks“ dazu ein, neue organisatorische Systeme zu denken, indem sie bunt-glitzernden Stäbe mal an die Wand lehnt, mal bündelt, mal im Gestell anordnet.
Jöran Möllers „Kipppunkte“ setzt Lithographien und transparente Reliefs (Schmelzfarbe auf Glas) in einer Rauminstallation zueinander in eine fragile Beziehung. Einen Raum hat auch Elisabeth Lieder mit Bildern und Objekten geschaffen; er wird im Lauf der Ausstellung auch zum Schauplatz von Performances werden. Sympathisch, doch auch etwas harmlos erscheinen die Radierungen und Holzschnitte von Samuel Minouvo Zonon, die sich lebendig-beseelten Tieren widmen und dabei zum Teil an Franz Marc und Picasso anknüpfen.
Menschlich anrührend ist der Film von Takashi Kunimoto, der sieben Jahre lang immer wieder einem Obdachlosen begegnet ist, ihn begleitet und mit der Kamera beobachtet hat. Ergreifend das Handy-Tagebuch von Lydia Hoske, die ihm Laufe ihres Meisterschülerinnen-Studiums am Chronische Fatigue-Syndrom erkrankte. Sie kann inzwischen kaum noch ihren Alltag bewältigen, wird in ihrem Leben immer weiter reduziert und verschwindet mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben. Sie möchte mit ihrem Video als Kranke sichtbar werden.
Sinnlich-lustvoll sind die großen Figuren, die Gudrun-Sophie Frommhage aus Papier erschafft – Inkarnationen des Weiblichen, die zum Teil an Niki de Saint Phalle erinnern. Kleinere, verformte Körper aus Keramik hat sie an einer voluminösen Säule befestigt, an der sie nun gleichsam rotieren. Opulent auch die Installation von Charlotte Maria Kätzl und Conrad Veit in der Remise: Ein wandfüllender Film zeigt die Künstlerin als Blume oder hinduistische Göttin verkleidet sowie märchenhafte Naturaufnahmen. Die Remise wird durch bunte Lampen und Overhead-Projektoren mit farbigen Folien in einen Lichtraum verwandelt. Dazu erklingt berauschende Musik. Das alles ist so kitschig, dass es schon wieder schön ist – ein Gesamtkunstwerk für alle Sinne.
Eine feine Arbeit ist Igor Shuklins „Die Trümmer von Bildern“. Der Künstler selbst spricht von der Elegie, die „das zerstörerische Chaos in den Zustand eines poetischen Gebildes verwandelt“; das trifft auf die Arbeit (UV-Inkjet-Digitaldruck auf Leinwand) bestens zu. Und ganz phantastisch schließlich „Wenn das Wasser schreiben könnte“ von Jette Held, große Fotogramme, aufgenommen nachts mit Blitz-, Mond- und Stadtlicht im Wasser der Donau und der Bode. In den reichen Grautönen dieser Fotoarbeiten ist das Wasser selbst Bild geworden und scheint doch weiter zu fließen.