Regine Nahrwold am 7. November 2022
Ausstellung „Gezgin, lass uns gehen“ von Ugur Ulusoy im Kunstverein WF
„Erst der Knall, dann der Schwebezustand“, Malmaterialien: Acryl, Öl, Pastell- und Ölkreide, Sprühlack, Tusche, Pigmente und Latex auf Stoffen. Die Arbeit von Ugur Ulusoy füllt eine ganze Wand im Kunstverein Wolfenbüttel. Nein, nicht auf Leinwand, die auf einen Rahmen gespannt ist, malt der Künstler, sondern auf dünnen Tüchern, die er zu großen Formaten aneinandernäht und die leicht und lose vor der Wand herabhängen. Manche von ihnen, die kleineren, sind noch brave Rechtecke, ganz wie das gute alte Tafelbild, und am traditionellsten wirkt noch eine Reihe von kleinen, feinen Kugelschreiber-Zeichnungen. Doch überall wirbeln die knalligen Farben – Grellpink, Gritzegrün, Himmelblau und Zitronengelb – und die Formen schweben, wabern und wuchern. Selten klingt etwas Gegenständliches an, zumeist repräsentiert die Kunst sich selbst als Malerei, als mit breitem, gestischen Pinselstrich aufgetragene oder auch gesprühte Farbe. Manchmal tauchen in diesem Kosmos kubisch-architektonische Formen auf, doch die meisten sind rund, geschwungen, organisch, alles scheint in rotierender Bewegung zu sein…
„Gezgin, lass uns gehen“ hat Ugur Ulusoy seine Ausstellung genannt. „Gezgin“ ist türkisch und bedeutet „weitgereist, umherziehend“. Der Maler, der sich selbst als reisenden Wanderer bezeichnet, lädt die Gäste seiner Schau dazu ein, in die Bewegung zu kommen, gewohnte Denkschemata zu verlassen und Grenzen zu überwinden. All dies tut auch seine Malerei, etwa, wenn der Malgrund sich über das konventionelle Rechteck ausdehnt, bizarre Konturen annimmt, eingeschnitten wird oder nur an einer Spitze aufgehängt ist, so dass der Stoff wellig herunterschlappt.
Da ist es nur konsequent, wenn Ulusoy große Formate zu begehbaren Installationen zusammenfügt, die in den Raum hineinwachsen, ihn einhüllen, die Grenzen von Boden, Wänden und Decke verschleiern und eine höhlenartige Struktur entstehen lassen. Dazu gehören auch gewellte, spiegelnde Flächen, die die Abbilder der betrachtenden Menschen verschwimmen lassen. Sogar von der Decke hängt bemaltes, transparentes Tuch herab, eine zarte, weiche Plastik. Diese Kunst ist eine höchst dynamische, sehr belebende Angelegenheit.
Der Künstler dringt in der Ausstellung auch in den virtuellen Raum vor: In der Installation ermöglicht eine VR-Brille den Besuchern, die Grenzen zwischen analogem und digitalem Raum zu ergründen.
Ugur Ulusoy wurde 1984 in Oberhausen geboren, als Kind eines türkischen Vaters und einer kurdisch-aserbaidschanischen Mutter. Seinen Lebensschwerpunkt hat er in Krefeld. Vor seinem Studium der Freien Kunst von 2016-2019 an der HBK Braunschweig bei Hartmut Neumann und Norbert Bisky, studierte er von 2005-2013 an der TU-Braunschweig Architektur und anschließend von 2013-2016 Industrial Design/Transportation Design an der HBK Braunschweig. Seinen Meister absolvierte er 2019 bis 2020 bei Hartmut Neumann an der HBK Braunschweig und bei Franz Ackermann an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. 2019 war er Preisträger des Recklinghausener Kunstpreises „junger westen“ für Malerei und des Hans Purrmann Förderpreises der Stadt Speyer. Die Stoffe, auf denen Ulusoy malt, bekommt er übrigens von seinen Eltern, die diese früher auf Märkten verkauft haben. Sie sind eine Erinnerung an seine Herkunft und seine Kindheit und werden durch seine Bearbeitung in Kunst transformiert. (Bis 18.12, Kunstverein Wolfenbüttel, Reichsstraße 1, 38300 Wolfenbüttel, Öffnungszeiten: Mi bis Fr 16–18 Uhr, Sa und So 11–13 Uhr)