Regine Nahrwold am 2. Dezember 2023
Ausstellung „Raumverschiebungen“ von Penelope Wehrli im Allgemeinen Konsumverein
Dass sie sich bewegen, bemerkt man zunächst gar nicht. Erst wenn man sich längere Zeit im Ausstellungsraum des „Allgemeinen Konsumvereins“ aufhält, am besten still auf der Bank sitzt und die Installation auf sich wirken lässt, sieht man, dass die Vorhänge, die sich dort an Schienen längs und quer von einer Wand zur anderen spannen, ganz allmählich vorrücken und sich dabei entfalten. Es sind lange, zarte, durchsichtige Schleier in Hell- und Dunkelgrau, die teilweise parallel zueinander hängen und sich sachte voreinanderschieben und überschneiden. Worte sind auf ihnen zu lesen, je weiter die Stoffe sich ausbreiten, desto mehr von ihnen treten in schnörkelloser, klarer Druckschrift hervor: Intarsie, Eizelle, improvisieren, Chaos, Derwisch, erratisch, gestern… Die Substantive, Adjektive und Verben scheinen, wie die Satzfetzen und Phrasen aus dem Monolog der Molly Bloom im letzten Kapitel von James Joyces „Ulysses“, einem Bewussteinsstrom zu entstammen. Wirken sie, auf die Schleier gedruckt, eher statisch und vereinzelt, tauchen sie, von einer Männerstimme leise geraunt, wieder in diesen Strom ein und nehmen den Betrachter und Zuhörer in ihrem Fließen mit. Gleichzeitig schweben die Gesänge einer weiblichen Stimme über allem und hüllen Geist und Sinne sanft ein. Dazu tragen auch die feinen Schatten bei, die die Vorhänge mit ihren Faltenwurf und den Buchstaben auf die Wand zaubern. Die aus der Schweiz stammende Künstlerin Penelope Wehrli hat die Worte im Laufe der Zeit gesammelt. Der gesamte Wortschatz rotiert zudem, in Kolumnen auf eine Papierrolle gedruckt, in einer Art Klima-Messgerät, das seinen Fühler nach den Worten ausstreckt.
Realisiert hat Wehrli die Installation „Raumverschiebungen“ zusammen mit Hannes Strobl (Raum-Klang Komposition „Doorpusher“), Joa Glasstetter (Apparate) und einer „Special Vocal Appearance“ von Gabriele Hänel. Die Arbeit ist der zweite Teil der Trilogie „Anatomorphosen“, in der Wehrli die Künste mehrerer Beteiligten zu einer Synthese verbindet. Sie arbeitet auf der Schnittfläche von Raum, Performance, Theater und Medienkunst. Nach Performance- und Filmexperimenten in den 1980er Jahren in New York folgten Raum- und Kostümentwürfe für das Theater, u.a. für das Choreografische Theater von Johann Kresnik 1990-1998. Wehrli arbeitete auch mit Jossie Wieler, Dimiter Gottscheff und Reinhild Hoffmann zusammen. Seither entwickelt sie Serien freier gattungsübergreifender Arbeiten. Ihre medialen Räume bezeichnet sie als Raumpartituren. In den „Anatomorphosen“ sucht sie nach einer erweiterten Wahrnehmung, die sich auf das Publikum überträgt.
Das Faszinierende an dieser Raum-Klang-Performance ist die Schönheit, die Sensiblilität und die Langsamkeit des Ganzen. Licht und Schatten, Bewegungen und Geräusche nehmen einen mit in jenen träumerischen Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem die Grenzen von Raum und Zeit verschwimmen und man ganz entspannt ist, empfänglich für Ideen und Intuitionen, die aus dem Unbewussten aufsteigen – eine wunderbare Oase mitten im geschäftigen Gewühl der City!
(Bis 17. 12. 2023, Allgemeiner Konsumverein, Hinter Liebfrauen 2, 38100 Braunschweig, Öffnungszeiten: Do 18-22 Uhr, Sa und So 14-18 Uhr.)